In ästhetischer Hinsicht die größten Antipoden

Der Bariton Christian Gerhaher ist bei den Osterfestspielen 2023 gleich in zwei Werken zu erleben: Zum einen im Chorkonzert und zum anderen in Wagners »Tannhäuser«. Im Interview spricht er über seine Rolle des Wolframs, die Kunst des Älterwerdens und über die Unterschiede zwischen Brahms und Wagner.

© Gregor Hohenberg, Sony Music Entertainement

Christian Gerhaher, bei den Osterfestspielen sind Sie in zwei unterschiedlichen Werken zu erleben. Sehen Sie eine Verbindung zwischen dem »Deutschen Requiem« von Johannes Brahms und Richard Wagners »Tannhäuser«?

Das ist eine schwierige Frage – eigentlich finde ich hier sehr wenige Überschneidungspunkte. Brahms war der wagnerianischen Deklamation derartig abgeneigt und umgekehrt, die beiden waren in ästhetischer Hinsicht mit die größten Antipoden des 19. Jahrhunderts. Zwei Dinge überschneiden sich für mich persönlich ein bisschen: Einerseits braucht man für das Brahms-Requiem als Sänger eine große dynamische Bandbreite, das verbindet dieses Werk für einen Darsteller mit dem »Tannhäuser«. Und andererseits könnte man sagen, dass der zweite Satz aus dem Brahms-Requiem »Denn alles Fleisch, es ist wie Gras« eine gewisse dramatische Komponente besitzt, die bei Brahms sonst nicht so bekannt ist.

Der Wiener Musikkritiker Eduard Hanslick schwärmte: »Seit Bachs h-Moll-Messe und Beethovens Missa solemnis ist nichts geschrieben worden, was auf diesem Gebiet sich daneben zu stellen vermag.« Stimmen Sie ihm zu?

Nein, ganz und gar nicht. Dazu möchte ich sagen, dass Brahms für mich keine Hassfigur ist – im Gegenteil, ohne Brahms’ Musik möchte ich nicht leben. Er ist mir persönlich nicht sehr nahe, aber das ist Wagner auch nicht. Aber Hanslick ist für mich eine der unangenehmsten Figuren des 19. Jahrhunderts. Mit einer unglaublichen Prätention und Selbstgefälligkeit hat er so viele Leute abgeurteilt und sein ästhetischer Versuch »Über das musikalisch Schöne« ist für mich eigentlich, bis auf ein paar markante Sätze und natürlich den Grundimpetus, ein riesiges Ärgernis an Unlogik und an künstlerischer Borniertheit. Ich finde auch, dass dieser Satz von ihm grundfalsch ist. Es fehlen viele Werke wie beispielsweise Wolfgang Amadeus Mozarts c-Moll-Messe, da fehlt Felix Mendelssohn Bartholdys »Elias«, da fehlen die »Peri« von Robert Schumann – da ist einfach ganz viel, was er vergessen hat oder vielleicht nicht ausreichend würdigen konnte. Das andere ist, dass ich solche Aussagen an sich schon doof finde: »Es ist seit ... nichts besseres gekommen als ...«. Dieses Vergleichen ist so, als ob die Künste ein Sport wären. Das sind sie aber nicht. Es geht hier nicht um schneller, höher, stärker, sondern es geht um die momentane Erfüllung, die sich in manchen Werken, oder durch manche Werke, zeigen kann und zeigt. Das ist beim Brahms-Requiem natürlich auch in besonderer Weise der Fall.

Wenn Sie heute etwa Ihre Aufnahme von 2011 hören – gestalten Sie mit zunehmender Lebenserfahrung anders? Wie hat sich Ihre Interpretation mit den Jahren verändert?

Natürlich ändert sich die Gestaltung ständig und in größeren Abschnitten beträchtlich. Mit Lebenserfahrung hat es auch zu tun, doch die möchte ich eigentlich nicht instrumentalisieren. Ich versuche, nicht aus meiner eigenen Lebensperspektive und aus meinem eigenen Horizont heraus ein Stück zu verstehen, sondern genau das Gegenteil: meine Person und meine eigene Lebenswirklichkeit auszublenden und das Stück nicht mit Dingen zu überfrachten, die es nicht zu verantworten hat.
Es ergibt sich jedoch ein gewisser Kreuzungspunkt: Ungefähr in meinem Alter ist der Beginn der Abnahme der stimmlich-physiologischen Möglichkeiten eine Normalität. Auf der anderen Seite können dadurch auch Dinge entstehen, sängerisch, die mir früher einfach nicht gelungen sind, an Dramatik, an Größe oder einfach an einem gewissen Bogen, den man vorher körperlich nicht erfüllen konnte. Außerdem kommen mit der Erfahrung, die man über die Jahre sammelt, klangliche Vorstellungen hinzu und das kann dann tatsächlich zu der tragischen Situation führen, dass man viel eher als früher weiß, wie es klingen sollte – es aber immer weniger zu erfüllen vermag.

Sie werden in Salzburg das Werk mit dem Uraufführungsorchester – zumindest der endgültigen, 7-sätzigen Fassung – interpretieren. Was ist das Besondere am Klang des Gewandhausorchesters?

Mit dem Gewandhausorchester verbindet mich, dass ich sehr lange schon mit ihm singen darf. Das hat mit Herbert Blomstedt in den frühen Nullerjahren begonnen und seitdem habe ich sehr viel mit ihm als Dirigenten und dem Orchester singen dürfen. Es gibt zwei Dinge, die mich besonders beeindruckt haben: Das eine ist die klangliche Besonderheit. Ich kenne kein Orchester, das im besten Sinne so schwerblütig klingt und so viele warme, dunkle Farben vereint. Das andere ist das Gewandhaus selbst, das eine so unfassbar tolle Akustik hat. Es ist symphonisch einer der fünf besten Säle auf der Welt, die ich kenne. Ich muss sagen, dass mich dieses Orchester grundsätzlich in meinen Hörerfahrungen geprägt hat. Allerdings habe ich noch nie eine Oper mit dem Gewandhausorchester gesungen, darum freue ich mich ganz besonders auf den »Tannhäuser«...

... in dem Sie wieder Wolfram von Eschenbach singen. Was macht die Rolle interessant für sie – wären Sie persönlich mit dieser Figur befreundet?

Diese Figur empfinde ich als eine sehr schwierige, tragische Figur. Mindestens genauso tragisch wie die Figur des Tannhäusers. Einerseits ist Wolfram der Große, Intellektuelle, Sensible, anderseits stößt er mit seinem Intellekt an Grenzen, die ihm seine Emotionalität auferlegt. Das wird in dem großen, unglaublich erfolgreichen Lied im Sängerstreit deutlich, den er mit Sicherheit gewinnen würde, wenn es nicht zum Eklat käme und dieser abgebrochen würde. Er singt in dem Lied »Blick’ ich umher in diesem edlen Kreise..« von der platonischen Liebe, die er in einer Weise idealisiert, die unrealistisch ist. Der Tannhäuser sagt dann, ich glaube in seiner zweiten Replik, etwa sinngemäß: Ja, das klingt ja alles schön und gut, aber ganz ohne Anfassen geht es nicht, dann stirbt die Menschheit aus. Es geht nicht ohne Sex und diese Sexualität ist natürlich genau das, was den Wolfram schwer beschäftigt, weil es einerseits ein Wunsch von ihm ist, die Elisabeth nicht nur von ferne zu bewundern, sondern ihr Liebhaber zu sein. Also er ist wahrscheinlich noch viel mehr verliebt in sie als der Tannhäuser, doch auf der anderen Seite weiß er, dass sie ihn nicht liebt. Er ist kein realistischer, sondern ein romantischer Liebhaber. Die Diskrepanz, dass er aus diesem unglücklichen Lieben ein nicht wirklich stichhaltiges, intellektuelles Konzept schmiedet – allerdings auf eine brillante Weise, die alle begeistert – diese Diskrepanz wird ihm ganz klar bewusst. Und dann kommt es noch im Sängerstreit zu diesem kurzen Ausbruch, »Oh Himmel! Lass dich jetzt erflehen«, wo er im Grunde den Tannhäuser kopiert und sagt: »Na klar muss die Leidenschaft sein.« Dadurch provoziert er den Tannhäuser noch viel mehr, und zwar bis zu dem Punkt, an dem er zugibt, dass er bei der Venus war. Das führt dann zu diesem vollkommenen Eklat, der alle ins Verderben führt. Man könnte sagen, er hat diesen Schlamassel mit verursacht, durch seine Anmaßung und durch sein intellektuelles Defizit, sich selbst nicht genügend in seinen Urteilen, die vorschnell waren, zu hinterfragen.

Christian Gerhaher als Wolfram von Eschenbach © Wilfried Hösl

»Der Liebe reinstes Wesen«: Ihre Rolle, Wolfram von Eschenbach, ist ein ziemlicher Romantiker. Wie überträgt man diese Romantik, diese Feingeistigkeit auf die Stimme?

Diese vielschichtige und auch widersprüchliche Figur Wolframs ist sängerisch eine sehr interessante. Das zeigt sich durch eine immense dynamische Volatilität. Die sehr bekannten Lieder, die er am Ende des ersten Akts singt, sind rein lyrisch, und ein Extrem an Stille ist dieser fast essayistische Beitrag zum Sängerkrieg, wo er aus dem Nichts heraus mit einer äußerst anmaßenden Macht des Intellektuellen die Leute auf seine Seite lockt. Auch der »Abendstern« ist unglaublich leise. Es wird immer als »Lied an den Abendstern« bezeichnet, aber eigentlich empfinde ich es eher als eine kurze Arie, nur eben sehr leise. Vieles kommt aus dem Leisen heraus, ist dann aber mit Ausbrüchen versehen. Auch der Übergang vom »Abendstern«, von diesem Fastverschwinden des Tones zur Wiederkehr des Tannhäusers, wo Wolfram dann auch ziemlich schnell aggressiv wird, bis hin zur Romerzählung: Diese Zerrissenheit der Person, diese Unausgeglichenheit zeigt sich überall in den vielen leisen, vielschichtig gefärbten Tönen und in der massiven Kraft, die er dann auch wieder entwickelt. Es ist eine sehr kontrastreiche, man könnte fast sagen unreife Figur, der Wolfram.

Der von Ihnen angesprochene »Abendstern« ist wohl neben dem Pilgerchor das populärste Stück der Oper, auf welches das gesamte Publikum wartet. Fluch oder Segen?

So etwas ist natürlich immer in gewisser Wiese schwierig, aber man ist ja auch nicht als einziger verantwortlich für das, was beim »Abendstern« passiert, man hat ja noch einen Dirigenten (lacht), der ein Tempo wählt, und man hat vor allem auch die Celli, mit denen man variiert, man ist da also nicht allein.
Aber, es ist schon ein bisschen aufregend, muss ich sagen. Der 2. Akt ist tatsächlich für alle, nicht nur für den Tannhäuser, sehr anstrengend und lang. Das Finale dieses Aktes ist wie eine Art Monster – ich kenne sonst eigentlich kaum ein Finale, das durchgehend so anstrengend ist. Es gibt zwar längere Finals wie zum Beispiel den 2. Akt des »Figaro«, aber dieses durchgehende, ständige Gefordertsein aller, das ist schon heftig. Den 3. Akt zu singen, der bis zur Romerzählung sehr aus dem Leisen kommt, ist auch eine Herausforderung. Ich muss sagen, von vielen Rollen, die ich seit Langem singe, ist diese Rolle dennoch vielleicht die konsistenteste, die mir am nächsten liegt.

Wie würden Sie einem Wagner-Neuling die nicht immer ganz leichte Musik Wagners schmackhaft machen? Warum lohnt es sich, sich mit Wagner und dem »Tannhäuser« zu beschäftigen?

Der Zugang zu Wagner ist etwas, was vielleicht ein bisschen dauert – doch ich glaube, paradoxerweise ist die Musik Wagners eine, die auch Neulinge ganz besonders begeistern kann. Es gibt Leute, die hören sonst überhaupt keine klassische Musik, aber von Wagner sind sie vollkommen aufgesogen. Meiner Ansicht nach gibt es dafür zwei Gründe: Da ist zum einen die unfassbare dramatische und dramaturgische Begabung. Dass man ein Stück so dehnen kann, es so elastisch wird und einen so gefangen nehmen kann, das ist meiner Ansicht nach nur ganz wenigen Musikdramatikern gelungen. Der andere Punkt ist diese ganz außergewöhnliche Art der Deklamation, die nur wenigen Komponisten vorbehalten geblieben ist, die Behandlung eines Textes, das Plastischwerden eines Textes – das ist etwas, was bei Wagner eine unglaubliche Sogwirkung entwickeln kann. In der deklamatorischen Potenz würde ich an seine Seite nicht viele andere stellen, außer vielleicht Schumann.
Das ist im Übrigen, um nochmal zur ersten Frage zurückzukommen, der Hauptunterschied zu Brahms. Bei Brahms ist ein formales Denken aus musikformalen Zusammenhängen immer entscheidend. Die Sprache ist meiner Ansicht nach bei Brahms nie der Urgrund der musikalischen Erfindung und Intuition, sondern eher wird eine Sprache im Nachhinein einem formal greifbaren Stück angepasst. Das kann so weit gehen, dass die Sprache gar nicht mehr verständlich ist, dass also syntaktische Zusammenhänge aus musikalisch formalen Gründen zerfallen. Ich möchte das allerdings nicht als Qualitätskriterium verstanden wissen, beide sind einfach nur denkbar unterschiedlich.
Den »Tannhäuser« finde ich besonders aus zwei Gründen attraktiv: Erstens weil er so unfertig ist. Wagner hat ja gesagt: »Ich schulde der Welt noch einen Tannhäuser«, und das lag meiner Meinung nach daran, dass er in der Pariser Fassung Klänge eingebracht hat, die zu diesem Werk eigentlich gar nicht so passen, sondern eher »Tristan und Isolde« verwandt wären, und auch daran, dass die Dramaturgie manchmal nicht ganz schlüssig ist. Aber dieses Unausgegorene, Unterschiedliche in den drei Akten – bei Tannhäuser sogar extrem – ist etwas, was mich geradezu hinreißt, weil es künstlerisch wahnsinnig aufregend ist.
Auch wenn es ein früher Wagner ist: Es bleibt eine Oper, die eine unglaubliche Sprengkraft hat. Und was mich ganz besonders fasziniert: Es gibt ein paar Opern, die den Gesang zum Thema machen – zum Beispiel »Die Meistersinger«, aber auch »L’Orfeo« von Claudio Monteverdi – das sind Meisterwerke, die das, was sie selbst tun, auf der Bühne reflektieren. Dass die mögliche Bedeutung des Gesangs zum Thema wird, ist für mich immer ein ganz besonderer Reiz.

Woran denken Sie, wenn Sie an Salzburg denken – was für Eindrücke oder Bilder verbinden Sie mit der Stadt?

Salzburg ist meiner Heimat sehr verwandt, ich komme aus Niederbayern, das ist nicht sehr weit weg. Salzburg hat etwas Ländliches, was mir aus meiner Kindheit sehr nah und dadurch direkt verständlich ist. Vielleicht kann ich deswegen sagen, dass mich der weltweit wirksame Charme von Salzburg nicht so betrifft wie jemanden, dem das in seiner Kindheit nicht passiert ist. Für mich ist das nichts Besonderes, weil es einfach quasi meine Heimat ist.