Sehnsuchtsland Italien: Hector Berlioz, Bohuslav Martinů und der Traum vom Süden

Italien! Das »Land, wo die Zitronen blüht«, ist seit jeher auch ein Ort florierender Fantasien. Sie können ganz unterschiedlich ausfallen, je nachdem, wohin die Sehnsucht zieht. Hector Berlioz und Bohuslav Martinů zeigen es beim Orchesterkonzert II. Zwei Italienreisende in einem Konzertprogramm.

Piero della Francesca: Maria Verkündigung, Fresken in der Kirche von Arezzo

Zwei Kirchen in Italien. Und zwei Besucher

Ein Tourist, 64 Jahre alt, steht andächtig in der Basilika San Francesco in Arezzo. Schon als 32-Jähriger ist er erstmals nach Italien gekommen – 1922 war das, auf einer Tournee mit der Tschechischen Philharmonie, in der er als Geiger spielte. Nun, als arrivierter Komponist, sucht er nochmals die Begegnung mit dem geliebten Land und steht hier, in dieser unscheinbaren Kirche des Bettelordens, vor den Fresken des Piero della Francesca. Ein Gipfelwerk der Hochrenaissance: die Geschichte des Heiligen Kreuzes, eingefangen in einem Bildzyklus von überwältigend schlichter Ausdruckskraft. Berührt nimmt er den Eindruck auf, »eine feierliche Stille … und farbige Atmosphäre voller seltsamer, friedlicher und bewegender Poesie« – doch er belässt es nicht bei dieser Notiz. Was er gesehen hat, möchte er spiegeln in seiner Kunst. So entsteht im Frühjahr 1955 sein Orchesterwerk »Les Fresques de Piero della Francesca«, das im Jahr darauf, bei den Salzburger Festspielen 1956, uraufgeführt wird und seinen Namen groß heraushebt: Bohuslav Martinů.

Der andere ist 27 oder 28 Jahre alt und besucht den Petersdom in Rom. Der riesige Kuppelbau weckt in ihm, wie er schreibt, »immer Schauer der Bewunderung. Er ist so groß! So vornehm! So schön! So majestätisch still!!!« Doch was macht der junge Mann in dieser Kirche, im Allerinnersten der katholischen Christenheit? »Als die Sommerhitze unerträglich wurde, verbrachte ich dort gern meine Tage. Mit einem Band Byron machte ich es mir in einem Beichtstuhl bequem, genoss die Kühle und die fromme Stille … und verschlang mit Muse diese feurige Poesie …« Der Kontrast steigert die Lust: im Beichtstuhl zu sitzen, am hehren Ort der Pönitenz, und von rohen Kämpfen und sündigen Leidenschaften zu lesen. Und wie prickelnd wird der Gegensatz erst, wenn er aufschaut von seinem Buch! »Vom Licht angezogen, wanderten meine Augen zu Michelangelos erhabener Kuppel hinauf. Welch plötzlicher Schritt von einer Vorstellungswelt in die andere!!! Vom Kampfgeschrei … und blutigen Gemetzeln wechselte ich übergangslos zu den Konzerten der Seraphim, dem Frieden der Tugend, der ewigen Ruhe des Himmels …« Dieser junge Mann liebt die Extreme. Und so komponiert er auch. Sein Name: Hector Berlioz.

Petersdom in Rom

Mit Byron im Bund zieht es ihn dann – am Schreibtisch in Frankreich – nochmals zu einer Italientour voll kontrastreichem Zauber: »Harold en Italie«, eine Symphonie für Solobratsche und Orchester, entsteht 1834, zwei, drei Jahre nach den Beichtstuhlwonnen im Petersdom. Auch für seine erste Oper sucht er die Sonne des Südens: »Benvenuto Cellini« (1838) bringt die Geschicke des berühmten Florentiner Renaissance-Skulpteurs auf die Bühne, freilich ohne den erhofften Erfolg. Der Komponist entschließt sich, das Material umzugießen und aus Themen der Oper eine Konzertouvertüre zu schaffen. »Le carnaval romain«, 1844 in Paris uraufgeführt, becircte schon das Premierenpublikum mit seiner unwiderstehlicher Italianità.

Im Orchesterkonzert II treffen die beiden Italienreisenden aufeinander, Bohuslav Martinů und Hector Berlioz. Und weitere reizvolle Begegnungen spielen dabei mit: Begegnungen zwischen den Künsten, Berührungen zwischen bildender Kunst, Literatur und Musik. Unter der Sonne des Südens schmelzen die Grenzen dahin – auch die zwischen Kunst und Leben.

(Auszug aus dem Programmhefttext von Joachim Reiber)