»Das Bewusstsein, das sich aus Staubwolken entwickelt«

Der Komponist und Dirigent Esa-Pekka Salonen über sein Cello Concerto, das im Orchesterkonzert I mit der jungen, finnischen Cellistin Senja Rummukainen erklingt.

Esa-Pekka Salonen © Benjamin Ealovega

An der Grenze des Möglichen

Einige der Ideen für mein Cellokonzert lassen sich mindestens drei Jahrzehnte zurückverfolgen, aber das eigentliche Material für das Stück wurde größtenteils im Sommer 2015 entwickelt, als ich beschloss, ein paar Monate lang nach neuen Arten von Texturen zu suchen, ohne einen konkreten Plan zu haben, wie ich sie verwenden sollte. Ich beschloss, einige Phrasen aus meinem 2010 entstandenen Solocellostück »...knock, breathe, shine... « im zweiten und dritten Satz zu verwenden, da ich immer das Gefühl hatte, dass die Musik des Solostücks in ihrem Umfang und Charakter fast orchestral ist und gut in einer orchestralen Umgebung funktionieren würde.

Ich habe nie - auch nicht in den recht dogmatischen und starren modernistischen Tagen meiner Jugend - das Gefühl gehabt, dass die Idee, ein Solokonzert zu schreiben, an sich mit einer Art verstaubter bürgerlicher Tradition belastet wäre. Ein Concerto ist einfach ein Orchesterwerk, in dem ein oder mehrere Instrumente eine wichtigere Rolle spielen als die anderen. Ein Concerto suggeriert keine formale Gestaltung wie eine Symphonie. Außerdem gefällt mir das Konzept eines Virtuosen, der an der Grenze des körperlich (und manchmal auch geistig) Möglichen arbeitet. Mit Nietzsches Worten: »Du hast aus der Gefahr deinen Beruf gemacht; daran ist Nichts zu verachten.« (Kein Programmtext ist vollständig ohne ein Zitat aus »Also sprach Zarathustra«.)

Die Cellistin Senja Rummukainen spielt den hochvirtuosen Solopart © Eeva Suutari

»Ich stellte mir die Solo-Cello-Linie als die Flugbahn eines sich bewegenden Objekts im Raum vor, das von anderen Linien, Instrumenten oder bewegten Objekten verfolgt und nachgeahmt wird.«


Ich habe jedoch gelernt, dass sich Virtuosität nicht auf die Mechanik des Spiels eines Instruments beschränkt. Ein wahrer Virtuose kann auch die Schönheit und den Ausdruck in den leisesten Momenten einfangen und den Beinahe-Stillstand durch seine Vorstellungskraft und Kommunikationsfähigkeit mit Leben füllen. In meinem anderen Leben als Künstler erlebe ich das fast jeden Tag: wie Musiker aus einer einzigen Note eine Bedeutung schaffen können. Ich als Komponist empfinde das als demütig, aber auch als sehr dankbar. Schließlich bedeuten all die Zeichen auf dem Papier nichts, bis ihnen jemand Leben einhaucht.

Der erste Satz beginnt mit etwas, das in meinem Skizzenbuch den Titel »Chaos to line« trug. Chaos ist hier metaphorisch zu verstehen, als eine stilisierte Version der Idee. Mir gefällt die Vorstellung, dass ein einfacher Gedanke aus einer komplexen Landschaft hervorgeht. Fast wie das Bewusstsein, das sich aus Staubwolken entwickelt.

Dies führt zur zweiten halbkosmologischen Metapher: ein Komet. Ich stellte mir die Solo-Cello-Linie als die Flugbahn eines sich bewegenden Objekts im Raum vor, das von anderen Linien, Instrumenten oder bewegten Objekten verfolgt und nachgeahmt wird. Ein bisschen wie der Schweif eines Kometen. Musikalisch gesehen könnte man es als Kanon bezeichnen, aber nicht ganz, denn die Nachahmung ist nicht immer wörtlich oder präzise. Der Gestus bleibt jedoch jedes Mal fast identisch. Manchmal fliegt die imitierende Wolke über dem Cello, manchmal im selben Register. Sie verdünnt sich auf zwei Linien und schließlich auf eine. Es gibt schnellere, verspieltere Episoden, die sich mit der Wolke abwechseln, und schließlich gewinnt die Bewegung so viel an Tempo, dass das Gleichgewicht in Richtung schnelle Musik kippt. Am Ende kehrt eine Variation der Wolke zurück.

Finnish Radio Symphony Orchestra © Anton Sucksdorff

Das Orchester als eine gigantische Lunge

Der zweite Satz ist von der Form her sehr einfach, von der Textur her jedoch komplexer. Er beginnt mit einer keilförmigen Wolke [>] und endet mit einer anderen [<], wenn man sich so etwas vorstellen kann. Die langsamen Cellobögen werden in Schleifen gelegt, um aus einzelnen Linien Harmonie zu schaffen. Manchmal sind die Schleifen im Raum verstreut. Der Mittelteil ist ein spielerisches Duett zwischen dem Solocello und der Altflöte.

Der dritte Satz beginnt mit einem langsamen, grüblerischen Cello-Solo unter den Resten der zweiten Keilwolke. Der Ausdruck wird durch eine Reihe von Accelerandi schnell extrovertierter. Ein rhythmisches Mantra beginnt sich in den Congas und Bongos zu entwickeln. Es wird im weiteren Verlauf des Satzes noch oft auftauchen, meist in den Pauken. Diese Musik ist oft tänzerisch, manchmal wild gestikulierend, vielleicht aus purer Freude, nichts mehr mit Wolken und Prozessen zu tun zu haben.

Eine akrobatische Solo-Episode führt zu einem schnellen Tutti-Abschnitt, in dem ich mir das Orchester als eine Art gigantische Lunge vorstellte, die sich zunächst langsam ausdehnt und zusammenzieht, sich dann aber bis zu einem Punkt leichter Hyperventilation beschleunigt, der wieder zu dem tänzerischen Material führt. Quixotische Solo-Cello-Episoden führen zu einer fröhlichen Coda, die auf der »Lungen-Musik« basiert, nun aber mit einer Solo-Cello-Linie. Schließlich verpufft die kinetische Energie sanft, die rasante Bewegung verlangsamt sich und die Cellolinie steigt langsam zu einem stratosphärisch hohen b auf, zwei Zentimeter links vom höchsten Ton des Klaviers.

Esa-Pekka Salonen,
Hamburg, 8 Februar 2017