Willkommen
Wunden und Wunder
Wir leben in einer verwundeten Zeit. Wir wundern uns nicht mehr, dass wir uns Wunden schlagen. Und keine Zeit, scheint es, kann diese Wunden, die wir uns gegenseitig zufügen, mehr heilen. Gibt es einen Ausweg? Oder nur den Stillstand des Stehenbleibens, des Verharrens, des Verhärtens? Wir pflegen und lecken unsere Wunden, als wären es unsere Identitäten.
Dieses »Zeige Deine Wunde«von Joseph Beuys als ein Zeichen der Empfindsamkeit und der Anerkenntnis haben wir verkehrt in einen Wettbewerb des Verwundetseins an allem. Statt nach Heilung zu suchen, streuen wir Salz in unsere Wunden, als ob wir sie für immer offen halten wollen.
Im Deutschen reicht nur ein Buchstabe und aus der Wunde, dem Schmerz, wird das Wunder, die Überwindung des Schmerzes. Aber wozu die Wunden? Warum sie ertragen? Warum sie schlagen? Warum nicht lieber das Wunder wagen? Es gibt kein Wunder ohne uns – ebenso wie die Wunde sollten wir das Wunder anerkennen, jenseits aller christlicher Ikonographie. Und letztlich haben wir ein Geschenk, dass uns das Wunder erlebbar macht wie sonst nur die Liebe: Es ist die Musik. Denn die Musik ist Wunde, Wunder und Erlösung.
In diesem Sinne haben wir für Sie 2025 ein Programm in nie da gewesener Vielfalt entworfen und empfangen Künstlerinnen und Künstler aus der ganzen Welt. Gleich drei Orchester, eine Dirigentin und drei Dirigenten werden für Sie musizieren. Im Zentrum steht Modest Mussorgskis »Chowanschtschina«, jenes »Volksdrama« aus dem Ende des 19. Jahrhunderts, das ein erschütternd aktuelles politisches und gesellschaftliches Bild Russlands, geprägt von Gewalt, Macht- und Klassenkämpfen zeigt. Dirigent und Komponist Esa-Pekka Salonen stellt diesem Monumentalwerk die vielleicht berührendste Symphonie des Repertoires gegenüber – Gustav Mahlers Zweite, die sogenannte »Auferstehungssymphonie«.
Und der gebürtige Finne bringt mit dem Finnish Radio Symphony Orchestra ein Ensemble von verblüffender Präzision und Transparenz erstmals nach Salzburg, natürlich auch mit Musik des Nationalkomponisten Jean Sibelius im Gepäck. Dem Wunder spürt auch der junge russische Dirigent Maxim Emelyanychev mit dem Mahler Chamber Orchestra und Felix Mendelssohn Bartholdys Oratorium »Elias« nach.
Ich lade Sie herzlich ein, das Programm gründlich zu studieren – es gibt noch viel zu entdecken, zum Beispiel einen Abend mit dem Salzburger Mozarteumorchester und Sopranistin Sondra Radvanovsky. Ich freue mich darauf, Sie 2025 bei den Osterfestspielen begrüßen zu dürfen.
Nikolaus Bachler
Intendant und Künstlerischer Leiter der Osterfestspiele Salzburg