Die Komponistin Sofia Gubaidulina über ihr Orchesterwerk »Der Zorn Gottes« – ein Auftragswerk der Osterfestspiele Salzburg, das 2023 im Rahmen des Orchesterkonzerts I unter der Leitung von Andris Nelsons endlich in Salzburg aufgeführt wird.
Sofia Asgatovna, erzählen Sie uns von Ihrem Werk »Der Zorn Gottes«.
Gubaidulina: Dieses Werk ist Beethoven gewidmet. Dazu ist zu sagen: Es ist noch nicht vollendet. Es ist Teil eines größeren Werkes, dass zu Beethovens Geburtstag im Dezember 2020 vollendet werden muss und aus zwei Teilen bestehen wird: einem Prolog, an dem ich jetzt arbeite, und dem Finale, Zorn Gottes, das Sie gleich hören werden.
Beide Teile haben einen gemeinsamen Titel, eine Widmung: »An den Großen Beethoven«. Teil Eins, Prolog, hat den Untertitel »Muss das sein?« – wie Sie verstehen, ist es eine Art Zwiegespräch mit Beethoven und seinem »Es muss sein«. Zweiter Teil, »Zorn Gottes«, hat ebenso einen Untertitel, und zwar: »Nein, so muss es nicht sein!«.
Es muss nicht sein – dieser Anstieg des Hasses unter den Menschen! Den Menschen, die, wie mir scheint, gar nicht so schlecht, eigentlich sogar ziemlich erfolgreich und komfortabel leben. Ich erkenne das an der Weltlage, an einer allgemeinen Überanspannung der Zivilisation. Den Menschen geht es ziemlich gut. Und der Hass steigt dennoch mehr und mehr an. Warum? Das ist für mich eine der vorrangigsten Fragen.
Welche Bedeutung hat der Titel »Zorn Gottes«?
Gubaidulina: Was den Titel meines Werkes betrifft, so ist er, wie ich glaube, selbsterklärend, es bedarf keines weiteren Kommentars: Gott ist zornig. Er ist zornig, böse auf uns Menschen, auf unser Verhalten. Wir haben Schuld auf uns geladen!
Sie sprechen gerade von zwei Teilen, einem Prolog und dem Finale. Sind die womöglich aber Bestandteile eines noch größeren Musik-Archipels, wie so oft bei Ihnen?
Gubaidulina: Natürlich kann jeder Teil dieses Werkes auch getrennt voneinander aufgeführt werden. Im Grunde genommen ist es aber das gleiche Thema, das mich schon lange höchst beschäftigt: Das Dilemma von Liebe und Hass. Dem Hass, der in dieser Welt mit einer solchen Kraft und Intensität heranwächst, dass es mich wie jeden zeitgenössischen Künstler zwangsläufig berührt und berühren muss.
Mehr oder minder sprechen viele meiner Werke von ein und demselben – ob nun »Warum?«, oder das Violinkonzert »Du und ich«, und natürlich das Oratorium »Über Liebe und Hass«. Immer das gleiche Thema – jeweils anders interpretiert.
Wie wichtig ist für Sie in diesem Zusammenhang ein Dialog mit Beethoven, mit seinem »Es muss sein«?
Gubaidulina: Wenn ich an Beethoven denke, erkenne ich, dass ihn ähnliche Fragen beschäftigt haben. Gerade seine letzten Quartette – das ist natürlich nur meine Vermutung –, aber gerade in diesem Beethoven-Jubiläumsjahr fühle ich mich immer wieder in dieser Vermutung bestätigt. Auch er hat sich diese Frage immer wieder gestellt: »Wie muss es sein?«. Beziehungsweise: »Ob es sein muss?«. In diesem imaginären Dialog formuliere ich die Frage auch schon mal anders: statt »Muss es sein?« – »Muss es so sein?«. Und meine Antwort lautet: So muss es nicht sein!
Hätten Sie Beethoven gern kennengelernt, mit ihm gesprochen?
Gubaidulina: Oh, ja! Aber eigentlich passiert es sowieso Tag ein Tag aus, indem ich mich mit seinen Themen beschäftige, seine Werke höre, seine Sonaten spiele. Ich rede ständig mit ihm.