Mysteriöse Mythenschöpfung

Gedanken rund um die Neuinszenierung von Richard Wagners »Der Ring des Nibelungen« durch Regisseur Kirill Serebrennikov.

»Das Volk ist […] in seinem Dichten und Schaffen durchaus genial und wahrhaftig […].«

»Der Nibelungenhort […] ist die Erde mit all' ihrer Herrlichkeit selbst, die wir beim Anbruche des Tages, beim frohen Leuchten der Sonne als unser Eigenthum erkennen und genießen […].«


Richard Wagner (»Die Wibelungen«, 1848)


Mythen. Sie sind älter als die Geschichte, denn sie erzählen von Zeiten, in denen der Mensch noch nicht existierte. Und sind weiser als die Menschheit, denn sie können von einer Zeit nach dem Ende der Welt berichten. So wie ein Ring weder Anfang noch Ende hat, – und doch endlich und vollkommen ist – kennen Mythen keine Autoren, veralten nicht und bleiben im Wesentlichen unverändert.

Wie Musik sprechen auch Mythen eine universale Sprache. Von durch die moderne Zivilisation unberührten Stämmen auf einsamen Inseln bis hin zu den dicht besiedelten Großstädten unserer Zeit – wo immer Menschen und das gesprochene Wort zu finden sind, entdeckt man zahlreiche Interpretationen desselben Mythos von der Schöpfung der Welt, der Mutter allen Lebens sowie des Schicksals von Göttern und Menschen.

Eben dieser archaische Mythos als Grundlage von Wagners Epos interessiert Kirill Serebrennikow. Religiöse Überzeugungen, die zwar blenden, aber doch den Geist in ungekannte Höhen fliegen lassen. Gelegentlich bizarre, manchmal Schrecken erregende Rituale. Reste verschwundener Kulturen, deren stumme Masken das Ende der Welt voraussagen. All dies sind integrale Bestandteile von Mythos, sie alle sind Ursprünge. Von diesen Ursprüngen war Wagner fasziniert: »[Als] die nördliche Halbkugel unsrer Erde ungefähr so mit Wasser bedeckt war, wie es ietzt die südliche ist, mochte die größte Insel dieses nördlichen Weltmeeres durch das höchste Gebirge Asiens [ …] gebildet werden […]. Hier ist der Ursitz aller Religionen, aller Sprachen, alles Königthumes dieser Völker.« (aus: »Die Wibelungen«, 1848)

Die Menschheit sucht nach solchen Ursprüngen, wenn sie, nach dem flüchtigen Aufflammen von Bewusstsein, ja Erleuchtung, wieder in den Abgrund von Ängsten und Zweifeln versinkt und in ewiger Finsternis wandelt. In unserer Zeit, in der wir durch neue Kriege und eine Klimakatastrophe – eine neue Sintflut? – nah am Rande des Abgrundes stehen, wird dessen bedrohlicher Hauch wieder spürbar. Und wir wenden uns wieder den Ursprüngen zu.

Kirill Serebrennikow und sein Team möchten den »Ring des Nibelungen« in eine mysteriöse Mythenschöpfung verwandeln und bringen dazu Sängerinnen und Sänger, Künstlerinnen und Künstler aus verschiedenen Kulturen auf die Bühne. Wagner ließ sich von Schriftzeugnissen der früheren Bewohner Nordeuropas inspirieren, um ein universales und doch germanisches Epos zu schaffen. Kirill Serebrennikow greift Monumente und kulturelle Artefakte von Völkern aus aller Welt auf und schafft hieraus ein Welt-Theater. Hier lassen die Bilder, inspiriert von Volkskunst aus Afrika, Asien und Amerika, neue Glaubensformen entstehen. Überbleibsel der technogenen Welt mutieren zu verlassenen Heiligtümern. Die Linearität von Vergangenheit und Zukunft zerbricht in mosaikartige Einzelteile – doch nur, damit Wagners Musik sie wieder verbinden und von der vorherbestimmten Zukunft erzählen kann, die uns erwartet. Dieses Narrativ umspannt Kontinente und Jahreszeiten. Den Anfang macht das in verödeten Landstrichen Afrikas spielende »Rheingold«. Wie sich zeigt, ist dieses Land mit Eis bedeckt.

Daniil Orlov