Osterfestspiele 2026 - 2030: Ein Ring und Schönberg
Kirill Petrenko, Chefdirigent der Berliner Philharmoniker, am Pult seines Orchesters
Beide Werke sind Produkte jahrzehntelanger Arbeit ihrer jeweiligen Komponisten, die sämtliche Aspekte von Entstehung bis Aufführung – Text, Musik und szenische Konzeption – selbst gestaltet oder ersonnen haben. Wagner und Schönberg haben in ihrer Zeit die Musik neu gedacht, sie galten mit Recht als Neuerer, ja Revolutionäre: Wagner mit seinem Konzept der Leitmotive, das alle üblichen Formkonventionen der Oper ersetzte, und Schönberg mit dem System der Zwölftonmusik, die das musikalische Material auf die dichteste vorstellbare Art zusammenhielt.
Als Wagner und Schönberg diese Werke entwarfen, war die Menschheit in Aufruhr, die Welt aus den Fugen. Wagner nahm engen Anteil an den demokratischen und nationalstaatlichen Bewegungen im Deutschland der 1830er und 1840er Jahre, an den revolutionären Aufständen 1848/49 und an der gescheiterten Paulskirchenversammlung. Seine Beobachtungen führten ihn zum Schluss, dass an Stelle der Reparatur eine Neuerfindung des Staates treten müsse; diese Beobachtungen formte er zur erst einteiligen, sich bald zum vierteiligen Musikdrama ausweitenden Erzählung, in der er aus germanischen Heldensagen und nordischen Epen schöpfte.
Reichtum der Stimmen - Schönbergs Zwölftonmusik
Für Schönberg waren die Katastrophe des Ersten Weltkriegs, die Kulturkämpfe der Weimarer Republik und das Aufkommen offen antisemitischer Bestrebungen in einer vermeintlich zivilisierten Verfassung in den frühen 1920er Jahren die entscheidenden Impulse, sich wieder zum Judentum zurückzuwenden, sich für das Projekt eines jüdischen Staates in Palästina einzusetzen und seine Überzeugungen und Zweifel in einer großen Oper künstlerisch auszudrücken. Die Polyphonie seiner farbenreichen Zwölftonmusik, die als Reichtum der Stimmen erfahrbar ist, war dafür wie geschaffen. »Moses und Aron« schildert den Auszug der Israeliter aus Ägypten als Ideendrama um die Frage nach moderner jüdischer Identität. Das Bilderverbot als der entscheidende Faktor führt zur Konkurrenz zwischen der Theorie der Idee und der Praxis der Umsetzung, personifiziert an zwei Prototypen von Politikern, Moses und Aron. Die Ohnmacht Moses’ angesichts der geschmeidigen Machtpolitik seines Bruders äußert sich in der Diskrepanz zwischen Gedanke und Ausdruck – die letzte vertonte Zeile, bevor die als monumentales Fragment überlieferte Komposition abbricht, lautet: »O Wort, du Wort, das mir fehlt!«
Arnold Schönberg © Arnold Schönberg Center Wien
Eine Parabel auf die menschliche Zivilisation
Beide Stücke, »Ring« wie »Moses und Aron« , beschreiben Gesellschaftsentwürfe für eine Welt, deren geistige Fundamente zerschellt sind oder die im Laufe der Handlung zugrunde gehen. Beide Komponisten waren durchdrungen von ihrer Sehnsucht nach einer neuen Ordnung in gesellschaftlich-staatlicher Hinsicht und nach einem Leitbild in geistig-seelischen Belangen. Beide Werke wollen zum Denken UND Glauben anregen; sie kleiden ihre Argumentation in mythisch-legendäre bzw. biblische Geschichten, mit teils dramatischen Zuspitzungen (wie beim »Tanz ums goldene Kalb«), breiten ihre Gedanken ausführlich aus und sprechen zugleich mit ihrer Musik auch die Gefühle und das Unterbewusstsein an.
Als der »Ring«-Zyklus 1876 erstmals vollständig in Bayreuth auf die Bühne kam, war eine neue Art der Operndichtung, eine neue Art der Textvertonung, eine neue Art des musikalischen Dramas entstanden: eine Parabel auf die menschliche Zivilisation ebenso wie eine exemplarische Familiengeschichte, eine Erzählung über die Entstehung von Geschichtlichkeit und eine Mahnung vor der Zerstörung der Natur. Dieses 16-stündige Musikdrama ist mithin kaum in einer einzelnen Erzählweise zu fassen. Jede Aufführung muss bestimmte Aspekte in den Blick nehmen und jede Generation ihren eigenen Zugang finden. Dass uns heute die Frage nach dem Umgang mit der Natur besonders beschäftigt, bedarf keiner Erklärung, und dass ein Werk, in dem Gesetz und Macht auf der Versehrung eines stellvertretend für die gesamte Natur stehenden Baumes – der Weltesche – beruhen, für dieses Nachdenken prädestiniert ist, liegt ebenso nahe.
Richard Wagner
Neue Ideen und Ideale in einer postapokalyptischen Welt
Die Idee, die Welt durch Verträge zu ordnen, und die Macht, diese Idee durchzusetzen, sind im »Rheingold« in einem Symbol verknüpft: dem Speer, den Wotan aus einem Ast der Weltesche schnitzte und in den er mit Runen die Gesetze hineinritzte. Dieser Speer ist also Dokument der Verfassung und zugleich das Instrument, diese Verfassung nötigenfalls mit Gewalt durchzusetzen. Doch der Geistesblitz Wotans erweist sich als Hypothek: Seitdem ihr dieser Ast abgeschnitten wurde, beginnt die Weltesche zu welken. Nicht erst, als sich der Gott im unaufrichtigen »Vertragen« mit den Riesen verheddert, sondern schon von diesem Anfang her rührt das Verhängnis, in dem Wotans Welt verstrickt ist. Er ist uns näher verwandt, als uns lieb sein kann.
Inszenieren wird den »Ring des Nibelungen« der Regisseur Kirill Serebrennikov, der vielleicht musikalischste und zugleich einer der ideenreichsten, originellsten, kompromisslosesten Operndeuter der Gegenwart. Er sieht das Ganze unserer Zeit in diesem großen Werk widergespiegelt, Abstürze und Aufschwünge, die drohende Katastrophe wie die beflügelnde Hoffnung. Seiner Vision zufolge suchen die Menschen in einer postapokalyptischen Welt nach neuen Ideen und Idealen. Aus den Überresten der Zerstörungen bauen sie sich ihre Existenz neu auf. Verlorene Regeln müssen neu formuliert, das brutale Recht des Stärkeren durch Regelwerke eingehegt werden. Dabei meint Serebrennikov buchstäblich »alle«: Die verschiedensten Kulturen der Welt werden in seiner Erzählung eine Rolle spielen und in den schon von Wagner aus diversen Epen synthetisierten Mythos einfließen. Im Verlauf der Tetralogie werden beispielsweise auch die Theatermittel des traditionellen indonesischen Schattenspiel, Wayang Kulit, zum Tragen kommen.
Regisseur Kirill Serebrennikov © Vahid Amanpour
Durch eine archäologische Linse
Nachhaltigkeit ist für Serebrennikov und sein Team essentiell, jenseits von modebegünstigten Schlagworten. Seine Vorstellung einer zeitgemäßen »Ring«-Interpretation sieht vor, dass aus den Trümmern einer zerstörten Welt etwas Neues entsteht. Es kann aus der Asche ein Phoenix steigen, aus den Bruchstücken obsolet gewordener Ideologien kann eine neue Religion entstehen.
In der szenischen Realisierung wird der Regisseur mit der Recycle Art Group zusammenarbeiten. Dieses Kollektiv besteht im Kern aus den russischen, in Paris lebenden Künstlern Andrey Blokhin und Georgy Kuznetsov. Wie Computerexperten durchforsten sie verschiedene kulturelle und visuelle »Software«, die sich zu einer festen Schicht auf der Hardware des kollektiven Bewusstseins abgesetzt hat, und versuchen, widersprüchliche »Programme« zu identifizieren und zu verhindern, dass sie sich gegenseitig behindern. Sie untersuchen die zeitgenössische Kultur quasi durch eine archäologische Linse – inspiriert von ihrer Sorge über die steigende Menge an Materialabfällen als Nebenprodukt des allgemeinen Konsumverhaltens.
Den Auftakt zum neuen Kapitel der Osterfestspiele Salzburg macht im kommenden Jahr »Das Rheingold«, der Vorabend zum »Ring des Nibelungen«. Zwischen »Walküre« und »Siegfried« (jenem Teil, dessen Entstehung Wagner etwa in der Mitte unterbrach und erst nach einem Jahrzehnt wieder aufnahm) wird – so kontrastierend wie ergänzend – »Moses und Aron« auf die Bühne gebracht. Die Inszenierung des »Rings« wird sich also nicht nur über vier, sondern gleich fünf Osterfeste erstrecken.