Musik. Überall ist Musik.
Von Lyn Gardner
»Ich möchte Ihnen eine Geschichte erzählen«, sagt Janina, die unscheinbare, alternde Frau im Zentrum des Stücks »Drive Your Plow Over the Bones of the Dead« (2023). Es ist eine alptraumhafte, visuell fesselnde Bühnenversion von Simon McBurney, basierend auf einer ökologischen Parabel der polnischen Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk, die wiederum von William Blake inspiriert war. Wie viele von McBurneys Werken ist es ein Stück, das meisterhaft zwischen dem Surrealen und dem Alltäglichen, dem Unheimlichen und dem beißend Komischen schwankt, während es unsere Beziehung zur Natur untersucht und auch Widerstand des Publikums mitdenkt. Janinas Geschichte wird zu einem Theaterstück, das als Aufruf zu den Waffen gelesen werden kann.
Das Erzählen von Geschichten - selten linearen, oft verworrenen Erzählungen - ist seit 40 Jahren die Grundlage für die bemerkenswerten Werke des Theater- und Opernregisseurs, Schriftstellers und Schauspielers Simon McBurney. Am häufigsten, aber nicht immer, geschah dies mit der 1983 von ihm mitgegründeten Compagnie Complicité.
Motiviert durch Unwissenheit
Seine Geschichten, die weder geografische noch imaginäre Grenzen kennen, sind eine rastlose Suche nach den Geheimnissen der Welt, in der wir leben, nach der Unermesslichkeit der Vergangenheit (sein Vater war Professor für Archäologie an der Cambridge Universität), nach menschlichen Emotionen von Trauer bis Neid und nach neuen Wegen des Lebens, des Denkens und der Verbindung zur Natur. Der Regisseur bekennt sich dazu, durch seine eigene Unwissenheit motiviert zu sein: »Ich fühle mich von Natur aus von etwas angezogen, das ich nicht verstehe, denn wenn man versucht, sich mit etwas zu beschäftigen, das man nicht versteht, öffnet sich eine Tür zu einer anderen Welt«.
Zu diesen anderen Welten gehören die Untersuchung der menschlichen Erinnerung und der Spuren, die wir hinterlassen, in dem bahnbrechenden »Mnemonic« (1999), die Komplexität der Zeit in »The Vertical Line«(1999), das in Zusammenarbeit mit John Berger entstand, die unerwartete Kollision von mathematischen Gleichungen und zwischenmenschlichen Beziehungen in dem äußerst bewegenden »A Disappearing Number« (2007) und das europäische Bewusstsein in »The Encounter« (2016). Letzteres war eine beunruhigend intime theatralische Reise tief in den Amazonasdschungel und in den Verstand. Die Zuschauerinnen und Zuschauer trugen Kopfhörer, die den Ton mit Hilfe binauraler Technologie direkt in die Ohren leiteten. Es fühlte sich an, als wäre man kopfüber in das Gehirn eines Fremden gestürzt.
McBurneys Shows erinnern uns daran, dass Theater ein Akt der Übertragung ist, der auf einem Ritual beruht, und dass es dieses wiederholte Ritual ist, das uns zusammenbringt und unsere Herzen im Einklang schlagen lässt. Um dies zu erreichen, verwendet er häufig die einfachsten und ältesten theatralischen Mittel, oft nur den menschlichen Körper selbst. Oder vielleicht ein oder zwei Stühle. Oder eine zerbrochene Platte, die den Mond darstellt. Oder er nutzt ältere Techniken wie das von Bunraku inspirierte Puppenspiel in dem satirischen Stück »A Dog's Heart« an der English National Opera (2010) oder die Foley-Kunst, die in »Die Zauberflöte« (2013, Wiederaufnahme für die New Yorker Metropolitan Opera im Jahr 2023) Live-Klänge passend zur Handlung erzeugt. Musik, überall ist Musik.
Musik zieht sich durch McBurneys Werk wie ein Fluss.
Was ungewöhnlich erscheint, denn er wuchs in einem Haushalt auf, in dem es kaum Zugang zum Radio und nur wenige Schallplatten gab. Er entdeckte die Musik erst in seinen späten Teenagerjahren für sich, aber sie wirkt wie ein zusätzlicher Charakter in seinen Produktionen, und seine Leidenschaft für ihre Ausdrucksmöglichkeiten zeigt sich sowohl in seinen Theater- als auch in seinen Operninszenierungen. Wobei letztere immer häufiger werden. Wenn er erst später zur Opernproduktion kam, so liegt das vielleicht daran, dass die Opernintendanten nur langsam erkannten, wie gut sein Regieansatz für eine so vielschichtige Kunstform geeignet ist.
Aber der Brite hat auch keine Angst davor, mit neuen Technologien zu spielen (er war ein früher Anwender der Videoprojektion), da er sie nur als ein weiteres Werkzeug im Malkasten betrachtet, die es dem Künstler ermöglicht, eine Geschichte auf die lebendigste Weise zu erzählen. Sein Ansatz ist äußerst praktisch und immer spielerisch. Letzteres war schon immer ein Merkmal der Arbeit von McBurney und Complicité. Der Name der Compagnie zelebriert die Idee des Spielerischen, des Gemeinsamen und des Kollaborativen. Als Complicité in den frühen 1990er Jahren zum ersten Mal am Londoner National Theatre arbeitete, berichtete ein Scout, der von der nervösen Geschäftsleitung geschickt wurde, um zu sehen, was im Proberaum passierte, in empörtem Tonfall: »Alles, was sie tun, ist spielen!« Aber es ist genau dieses Spiel, durch das McBurney und seine Partner Theaterwelten erfinden und Neues schaffen.
Im Laufe der Jahre haben uns McBurneys Produktionen vom Japan des 19. Jahrhunderts (»Shun-kin«, 2009) über das stalinistische Moskau der 1930er Jahre in »The Master and Margarita“ (2012) bis nach Polen in »The Street of Crocodiles« (1992) geführt, inspiriert von einer Geschichte des polnischen Juden Bruno Schulz, der 1942 von der Gestapo erschossen wurde. Es regnete Eier von der Decke über den Esstisch der Familie, ein Mann lief eine Wand hinunter, die Beine eines nicht umgedrehten Stuhls wurden zu den neuen Trieben eines kommenden Frühlings, und das Geräusch marschierender Springerstiefel war nie weit entfernt.
McBurneys Inszenierung hat eine Lebendigkeit und eine unvorhersehbare Qualität, die das Publikum dazu bringt, sich in seinen Sitzen ein wenig weiter nach vorne zu lehnen, aber er vermeidet die extravaganten Manierismen des Showmans. Die Momente des Erstaunens sind oft leise und nachdenklich; sie stehen immer im Dienst der Erzählung einer Geschichte, stellen häufig unvorhergesehene Verbindungen her und betonen diese.
Durch die Jahrhunderte
In »Mnemonic« zum Beispiel stellte der einfache Akt, in dem sich die Schauspieler nacheinander in einer bestimmten Körperposition auf einem Tisch ablösten, eine unmittelbare Verbindung zu unseren eigenen Vorfahren und einer 1991 auf einem Alpengletscher entdeckten 5.500 Jahre alten Leiche her. In diesem einfachen, aber verblüffenden Bild verstanden wir sowohl intellektuell als auch emotional, dass wir alle Teil eines fortlaufenden Zyklus sind, der sich über die Jahrhunderte erstreckt.
McBurney versteht die Schauspielerinnen und Schauspieler und ihre kreativen Prozesse instinktiv. Vielleicht, weil er selbst einer ist und ein ausgeprägtes Talent für Komik hat. Seine Arbeit hat oft einen komischen Biss, einen Sinn für echte Freude an der Absurdität der menschlichen Existenz. Neben seinen eigenen Produktionen hat er eine erfolgreiche TV- und Filmkarriere hingelegt, sei es als Bösewicht in »Mission Impossible - Rogue Nation« oder zuletzt als Herr Knock in Robert Eggers' Neuverfilmung des Gothic-Horrorfilms »Nosferatu«. Diese kulturellen Bezüge sickern in sein eigenes Werk ein.
Es ist kein Wunder, dass sein Werk das Publikum so begeistert hat und bei seinen Kollegen so einflussreich war. Thomas Ostermeier hat gesagt, er sei »der Regisseur, den ich am meisten bewundere«. Robert Icke nennt ihn »ein wahres Genie«. Doch Genie bedeutet auch die Überheblichkeit der Gewissheit und eine uneingeschränkte, einzigartige Vision. Aber jedes Werk von McBurney ist eine große Zusammenarbeit, eine gemeinsame Entdeckungsreise aller Beteiligten, bei der man nicht weiß, wo oder wie die Reise enden wird. Zu Beginn eines jeden Projekts besteht die echte Möglichkeit, dass es sich als nicht durchführbar erweist, dass es nicht funktionieren wird. Das macht die Proberäume zu Orten echten Risikos und unerwarteter Entdeckungen, und deshalb ist das Ergebnis immer so lebendig.
Seine langjährige künstlerische Partnerin, die Schauspielerin Kathryn Hunter, hat beschrieben, wie McBurney »sich in ein Stück hineinriecht«, indem er sich in den Proberaum schleicht und »sich in einen Text hineinschnuppert«. McBurney selbst sagt über seine Arbeit: »Ich bin mir nicht ganz sicher, was es ist, bis ich es gemacht habe.«
Und selbst wenn es fertig ist, ist es nie fertig.
McBurneys Stücke sind nie festgenagelt und fixiert; sie entwickeln sich ständig weiter, sind lebendige, organische Dinge, die dem Publikum Raum geben, seine eigene Vorstellungskraft einzubringen. Sie ermutigen das Publikum, sich aktiv einzubringen und mitzumachen. Sie trauen dem Publikum zu, sich im Nichtlinearen und Fragmentarischen zurechtzufinden und in der Bildsprache eine Bedeutung zu finden.
Während sich viele britische Theatermacher vom Text leiten lassen und im Schatten von William Shakespeare leben und arbeiten, hat McBurney immer nach Europa und darüber hinausgeblickt. Während seines Studiums an der Jacques-Lecoq-Schule in Paris in den frühen 1980er Jahren wurden seine Einflüsse durch die Arbeit von Tadeusz Kantor, Peter Brook und Peter Stein sowie durch europäische Literatur wie Friedrich Dürrenmatt und Stefan Zweig geprägt, deren Werke er später inszenieren sollte - »The Visit« (»Der Besuch der alten Dame«) am National Theatre 1991 und »Beware of Pity« (»Ungeduld des Herzens«) 2017.
In den Anfangstagen wurde McBurneys Regiearbeit mit Complicité von britischen Kritikern, die in textgebundener Starrheit geschult waren, oft als bloße Clownerie und physisches Theater abgetan. Nur wenige wussten zu schätzen, wie gefühlsbetont und politisch engagiert diese Arbeit sein konnte. »A Minute Too Late« (1985, wiederaufgenommen 2005), inspiriert durch das Ableben von McBurneys geliebtem Vater, war eine unwahrscheinlich herzzerreißende Komödie über den Tod; »More Bigger Snacks Now« - das 1985 den Perrier Award, den führenden britischen Komödienpreis, gewann - war eine hinterlistige und scharf beobachtete Satire auf Kapitalismus, Gier und eine von Akkumulation besessene Kultur.
Vier Jahrzehnte später sind die intellektuelle Neugier, das emotionale Einfühlungsvermögen und der leise politische Kommentar in McBurneys Werk noch genauso stark und notwendig wie zu Beginn. Er ist ein Geschichtenerzähler mit echtem theatralischem Gespür, der sich und sein Publikum immer wieder fragt: Warum diese Geschichte in diesem Moment erzählen, und ist sie für die turbulenten Zeiten, in denen wir leben, unverzichtbar?