Eine Art Ödland - zur Premiere von »Chowanschtschina«
Ein Märchen aus unserer Zeit
Modest Mussorgski begann das Projekt 1872, als er noch an der Oper »Boris Godunow« arbeitete. Der Komponist führte eine fast zwanghafte Recherche in einem dunklen Teil der russischen Geschichte durch, den Strelizenaufstand im 17. Jahrhundert. Die Ereignisse voller Verschwörungen und rücksichtsloser Gewalt ließen Mussorgski keine Ruhe – und ähneln frappierend Vorgängen im heutigen Russland: »›Chowanschtschina‹ ist insofern eine einzigartige Oper, als sie mit nur wenigen Änderungen der Namen und Details eine Geschichte aus unserer Zeit sein könnte«, sagt Dirigent Esa-Pekka Salonen. »Die Putschpläne einer Privatarmee implodieren und lösen sich in Rauch auf. Es wird versucht, die Religion zu instrumentalisieren, um politische Bestrebungen zu fördern. Die Menschen wissen nicht, wem sie glauben sollen, und misstrauen schließlich so gut wie jedem. Den Rebellen drohen harte Strafen, aber plötzlich werden alle ohne Erklärung begnadigt. Kommt Ihnen das bekannt vor?«
Faszinierend und bruchstückhaft
Die Geschichte von »Chowanschtschina« ist faszinierend und komplex. Es handelt sich um Modest Mussorgskis letzte Oper, die zum Zeitpunkt seines Todes im März 1881 unvollendet blieb. Er hinterließ nur fragmentarische Skizzen und keinen Klavierauszug der letzten beiden Szenen.
Die erste Aufführungsfassung der gesamten Oper wurde von Mussorgskis Freund Nikolai Rimski-Korsakow 1882 fertiggestellt, wobei Rimski einen Schluss aus seiner eigenen Komposition beisteuerte. Im Jahr 1913 fügte Igor Strawinsky für Sergej Diaghilew und die Pariser Aufführungen im Rahmen der »Ballets Russes« einen neuen Schluss hinzu. 1958 schließlich fertigte Dmitri Schostakowitsch seine Orchestrierung auf der Grundlage einer Ausgabe von Mussorgskis Skizzen durch den Musikgelehrten Pavel Lamm und den Komponisten Boris Asafiev an und fügte einen eigenen Schluss hinzu – seither beherrscht Schostakowitschs Version die Opernhäuser der Welt.
Es ist diese fragmentarische und unvollständige Natur – insbesondere des Schlusses –, die den Regisseur Simon McBurney fasziniert. »Mussorgski starb unter sehr schwierigen Umständen: Er war Alkoholiker und konnte die Oper nicht fertigstellen. Beide Künstler, die nach seinem Tod an der Oper gearbeitet haben – Strawinsky und Schostakowitsch –, fügten dem Stück ihre Vision und ihren Willen bei. Es gibt jedoch Notizen und Skizzen von Mussorgski, die darauf hindeuten, dass er in eine andere Richtung gehen wollte. Für uns geht es also nicht nur darum, diese außergewöhnliche Oper in ihrer Gesamtheit zu präsentieren, sondern auch darum, auf das einzugehen, wonach Mussorgski offenbar gesucht hat.«
Jede Note, die Mussorgski geschrieben hat
Die Salzburger Aufführung wird eine Version dieses Schlusses präsentieren, die versucht, so nah wie möglich an Mussorgskis überlieferten Manuskriptskizzen zu bleiben, bevor sie in Strawinskys Schluss aus dem frühen 20. Jahrhundert überleitet. Die Arbeit an diesen Skizzen wurde von Simon McBurneys Bruder und langjährigem künstlerischen Partner, dem Russland-Spezialisten und Komponisten Gerard McBurney, geleitet, wobei er sich besonders intensiv mit einer einzigen, aber äußerst aufschlussreichen Seite in Mussorgskis Handschrift beschäftigte, die mehrere Jahrzehnte nach der Fertigstellung von Schostakowitschs Version entdeckt wurde und nun im Musikmuseum in Moskau, dem ehemaligen Glinka-Museum, aufbewahrt wird. »Ich habe gesehen«, kommentiert Gerard McBurney, »dass diese Fragmentierung der überlieferten Musik es uns ermöglicht, ein faszinierendes Erlebnis zu modulieren, von Schostakowitschs wunderbarer Version über eine Art Ödland, in dem wir nur Mussorgskis fragmentarische Skizzen zur Verfügung haben, bis hin zur wunderschönen Erlösung durch Strawinskys Schluss. Wir wollten sicherstellen, dass das Publikum jede Note von Mussorgski hört.« Der renommierte finnische Klangkünstler Tuomas Norvio wird eine elektronische Klangwelt schaffen, um die Fragmente miteinander zu verweben.
Eine starke künstlerische Partnerschaft
Am Pult des Finnish Radio Symphony Orchestra steht Esa-Pekka Salonen, aktuell Chefdirigent in San Francisco. Der gebürtige Finne hat sich in den vergangenen Jahren vor allem dem symphonischen Repertoire gewidmet, seine jüngsten szenischen Opern – Wagners »Rheingold« sowie »Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny« von Brecht und Weill – dirigierte er 2019 an der Oper in Helsinki. Die Faszination für das russische Repertoire zieht sich durch seine künstlerische Biographie. So erarbeitete er gemeinsam mit Gerard McBurney 2011 die Uraufführung von Dmitri Schostakowitschs lang verschollenem Opernfragment »Orango«. »Es gibt Momente von atemberaubender Schönheit, zum Beispiel ganz am Anfang, der Sonnenaufgang an der Moskwa – im selben Moment beginnt man zu begreifen, dass dies der Morgen nach einem Blutbad ist, bei dem tausende Menschen getötet wurden«, so der Dirigent über »Chowanschtschina«. »Solche Ambivalenzen ziehen sich durch das gesamte Stück, es passieren immer zwei Gegensätze gleichzeitig – das Stück birgt jede Menge Herausforderungen, aber die Mühe lohnt sich.«
Der britische Regisseur Simon McBurney wählt seine Opernprojekte sehr sorgfältig aus – seine Ausflüge auf dieses Gebiet sind selten und ein Muss für Theaterliebhaber und Journalisten gleichermaßen. Zuletzt zeigte McBurney seine Inszenierung von Wolfgang Amadeus Mozarts »Zauberflöte« an der New Yorker Metropolitan Opera. Andere Opernarbeiten sind zum Beispiel Alexander Raskatovs »A Dog’s Heart« (De Nationale Opera Amsterdam, 2010), Igor Strawinskys »Rake’s Progress« (Festival d’Aix-en-Provence, 2017) und Alban Bergs »Wozzeck« (Festival d’Aix-en-Provence, 2023). Der Theater- und Filmschauspieler (»The Manchurian Candidate«, »Harry Potter«, »Mission Impossible«) sorgt seit Mitte der 80er-Jahre mit der von ihm gegründeten Theatercompagnie »Complicité« für aufsehenerregende Theaterproduktionen.